28.09.2017 -
Ich bin jetzt schon ein wenig genervt! Seit drei Wochen spreche ich mit meinem neuen Mitarbeiter – ich gebe ihm das Pseudonym Igor – über eine Aufgabe in einem recht wichtigen Projekt. Nach der ersten Besprechung – ich denke wir haben alles festgelegt – geht natürlich ein Protokoll hinaus. Nach einiger Zeit bekomme ich einen Telefonanruf, weil Igor noch etwas eingefallen ist. Wir sprechen noch einmal über die Sache und klären den Sachverhalt. Eine Woche vergeht und Igor spricht mich wieder wegen der Aufgabe an. Gemacht hat er diesbezüglich zwar noch nichts, aber er hat weitere Fragen. Auch die können wir klären.
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28.09.2017 -
Ich bin jetzt schon ein wenig genervt! Seit drei Wochen spreche ich mit meinem neuen Mitarbeiter – ich gebe ihm das Pseudonym Igor – über eine Aufgabe in einem recht wichtigen Projekt. Nach der ersten Besprechung – ich denke wir haben alles festgelegt – geht natürlich ein Protokoll hinaus. Nach einiger Zeit bekomme ich einen Telefonanruf, weil Igor noch etwas eingefallen ist. Wir sprechen noch einmal über die Sache und klären den Sachverhalt. Eine Woche vergeht und Igor spricht mich wieder wegen der Aufgabe an. Gemacht hat er diesbezüglich zwar noch nichts, aber er hat weitere Fragen. Auch die können wir klären. Nun gehen die Wochen ins Land und unser Aufgabenpaket verschwindet beinahe im Halbdunkel des Vergessens. Da ich mir in meinen Terminplaner einen Merker gesetzt habe, kann es so weit aber nicht kommen. Ich fasse bei Igor nach und er erklärt mir sehr ausführlich, was er noch alles benötigt um anzufangen. Ich bekomme große Augen. Die Aufgabe sollte eigentlich fast beendet sein und mein Mitarbeiter hat noch nicht einmal angefangen. Offenbar baut sich Igor einen guten Satz an Sicherungssystemen um sich herum auf, statt endlich zu beginnen. Ich sage zu ihm: „Igor, wer ewig sinnt und nie beginnt, der endet nie!“ Worauf er zu mir sagt: „… und wenn ich einen Fehler mache?“ Ich rolle mit den Augen und wünsche ihm ein schönes Wochenende.
Am Montag bitte ich Igor zu mir und übergebe ihm einen Brief mit dem folgenden Inhalt:
Lieber Igor,
ich schätze dein Wissen und ich bewundere, wie du dich in bestimmte Aufgaben reinkniest. Leider haben wir langsam eine Herausforderung mit der Aufgabe, die ich dir übertragen habe und über die wir nun schon einige Male gesprochen haben. Du hast offenbar große Angst etwas falsch oder Fehler zu machen, richtig? Ich möchte dir mal eine kleine Geschichte erzählen.
Ich verlebte mit meinen Geschwistern und Freunden die Kindheit in den 1960er und 70er Jahren und rückblickend ist es kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten!
Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt in strahlenden Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit Bleichmittel. Türen und Schränke waren eine ständige Bedrohung für unsere kleinen Finger. Auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm. Wir tranken Wasser aus Wasserhähnen und nicht aus Flaschen. Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt den Hang hinunter, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen wir nach einigen Unfällen klar.
Wir verließen morgens das Haus zum Spielen. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste, wo wir waren und wir hatten nicht mal ein Handy dabei! Wir haben uns geschnitten, brachen Knochen und Zähne und niemand wurde deswegen verklagt. Es waren eben Unfälle. Niemand hatte Schuld – außer wir selbst. Keiner fragte nach „Aufsichtspflicht“. Ich kann mich noch an meine „Unfälle“ erinnern! Wir kämpften und schlugen einander manchmal grün und blau. Damit mussten wir leben, denn es interessierte die Erwachsenen nicht.
Wir tranken mit unseren Freunden aus einer Flasche und niemand starb an den Folgen. Wir hatten nicht Play-Station, Nintendo 64, X-Box, Videospiele, 64 Fernsehkanäle, Filme auf Video, Surround-Sound, eigene Fernseher, Computer, Internet-Chat-Rooms oder iPhones. Wir hatten Freunde. Wir gingen einfach raus und trafen sie auf der Straße. Oder wir marschierten einfach zu deren Heim und klingelten. Manchmal brauchten wir gar nicht zu klingeln und gingen einfach hinein. Ohne Termin und ohne Wissen unserer Eltern. Keiner brachte uns und keiner holte uns... Wie war das nur möglich?
Wir dachten uns Spiele aus mit Holzstöcken und Tennisbällen. Außerdem aßen wir Würmer. Und die Prophezeiungen trafen nicht ein: Die Würmer lebten nicht in unseren Mägen für immer weiter und mit den Stöcken stachen wir nicht besonders viele Augen aus.
Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung. Unsere Taten hatten manchmal Konsequenzen. Das war klar und keiner konnte sich verstecken.
Wenn einer von uns gegen das Gesetz verstoßen hat, war klar, dass die Eltern ihn nicht aus dem Schlamassel heraus hauen. Im Gegenteil: Sie waren der gleichen Meinung wie die Polizei! Unsere Generation hat eine Fülle von innovativen Problemlösern und Erfindern mit Risikobereitschaft hervorgebracht. Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung. Mit all dem wussten wir umzugehen.
Igor, du bist nicht in dieser Zeit Kind gewesen, vielleicht erklärt das, warum du nach Polster und Schutzschildern, Seitenairbags und Sicherheitsgurten suchst, bevor du mit deiner Arbeit beginnst. Aber lass dir von mir sagen, wir dürfen nicht erwarten immer in Watte gepackt zu werden. Wenn wir das wollen, müssen wir uns selbst um die Watte kümmern. Wir müssen unser eigenes Spiel spielen und wenn wir nicht gut darin sind, müssen wir mit den Konsequenzen zurechtkommen. Wir müssen die Verantwortung für uns und unsere Taten, aber auch für all unsere Unterlassungen übernehmen. Ich bitte dich, beginne mit der Realisierung der Aufgabe, über die wir nun schon so oft gesprochen haben, ziehe es durch und zeige mir bis spätestens diesen Freitag das Ergebnis.
Viele Grüße,
Roland
Unser Leben und unsere Projekte bieten uns viele Überraschungen, wir können uns nicht auf alle Eventualitäten vorbereiten und eine allumfassende Absicherung gibt es auch nicht. Doch wenn wir beginnen und auf das Unvorhersehbare stoßen, werden wir Mittel und Wege finden, damit umzugehen. Wir sollten nie aufhören anzufangen und nie anfangen aufzuhören.
Dies ist ein Auszug aus dem Buch "Der ProjektManager und Fräulein Sophie", von Dr. Roland Ottmann.
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